- ANZEIGE -
E-Paper Abo Anmelden
Ressorts
icon-logo

Interview

Selbstwertgefühl und seelische Stabilität – Jörg Berger verrät, wie Sie sie steigern

11.01.2024

Wie pflegt man seine seelische Stabilität? Symbolbild: unsplash.com
Wie pflegt man seine seelische Stabilität? Symbolbild: unsplash.com

Selbstachtung ist die Basis der seelischen Stabilität und schützt vor Erschöpfung. Deshalb sollte jeder Mensch seinen eigenen Wert kennen und pflegen, sagt der Psychotherapeut Jörg Berger. IDEA-Redakteurin Julia Bernhard hat mit ihm gesprochen.

IDEA: Herr Berger, wir vergleichen unsere Figur mit der der anderen, wir vergleichen unsere Erfolge mit denen anderer – und fühlen uns dann oft schlecht. Haben wir nicht genug Selbstwertgefühl?

Berger: Wir sind soziale Wesen. Unser Erfolg und Wohlbefinden hängen davon ab, dass wir gute Beziehungen pflegen und unseren Platz in der Gemeinschaft finden. Der Vergleich bietet dabei Orientierung.

Wir wollen wertvoll für die anderen sein. Dieser Mechanismus lässt sich nicht abschalten. Wenn aber der Vergleich zu stark gewichtet wird und man sich für irgendwelche Ideale abstrampelt, ist die Gefahr groß, dass man irgendwann erschöpft ist.

IDEA: Ist es nicht normal, Ideale zu haben?

Berger: Natürlich, aber wir alle weichen ja von den Idealen ab. Guten Eltern beispielsweise ist es egal, dass ihr Kind nicht perfekt ist. Im Gegenteil: Sie finden ihr Kind toll, so wie es ist. Diese Haltung müssen wir dringend auch uns selber gegenüber einüben.

Ich würde sagen, jeder hat geradezu eine Verpflichtung, sich attraktiv und begabt zu finden. Und das mache ich nicht an Erfolgsidealen, Schönheitsidealen oder auch christlichen Idealen fest. Ich muss eine unbedingte Wertschätzung mir selber gegenüber einüben.

„Wir wollen wertvoll für die anderen sein. Dieser Mechanismus lässt sich nicht abschalten.“

IDEA: Wie geht das?

Berger: Zum einen kann jeder die Punkte identifizieren, an denen er sich unter Druck setzt und fertigmacht. Es befreit schon, wenn einem auffällt: Was ich da über mich selbst ausspreche, würde ich niemals so über eine Freundin sagen. Es entspricht also gar nicht der eigenen Werthaltung.

Wenn einem das bewusst wird, dann gewinnt man schon ein wenig Abstand zu negativen Gedanken über sich selbst. Manche Menschen trumpfen mit Leistung auf, um sich wertvoll zu fühlen. Oder sie schieben Schuld und schlechte Gefühle den anderen hin, um sie selber nicht tragen zu müssen. Dann kann man üben, sich selbst von Unterlegenheitsgefühlen oder falschen Schuldgefühlen frei zu machen.

„Je mehr ich im Einklang mit meinem Wesen und meinen Gaben lebe, desto mehr freuen sich die anderen über mich.“ Symbolbild: unsplash.com

Und schließlich hilft die Entdeckung, dass wir uns heute in den meisten Beziehungen viel mehr erlauben können, authentisch zu sein. Ich mache mit meinen Patienten oft ein Experiment: Was passiert, wenn du dich den überzogenen Erwartungen nicht anpasst, sondern einfach nur dein Bestes gibst? Es ist erstaunlich: Meist passiert gar nichts. Es reicht, es ist wertvoll genug. Der Mitarbeiter wird auch so geschätzt. Er muss sich nicht verbiegen.

IDEA: Die in der Küchenpsychologie propagierte Selbstoptimierung ist demzufolge der falsche Weg?

Berger: Selbstoptimierung schwächt das Selbstwertgefühl, denn die kurzen Erfolge, die dadurch entstehen, sind wie ein Strohfeuer, das schnell ausgebrannt ist. Man bewegt sich zunehmend von den eigenen Grundbedürfnissen weg, und das erschöpft auf Dauer.

Wenn ich hingegen bei meinen Prioritäten bleibe und bei dem, was Gott an Möglichkeiten in mich gelegt hat, kann ich andere auch viel mehr beschenken. Je mehr ich im Einklang mit meinem Wesen und meinen Gaben lebe, desto mehr freuen sich die anderen über mich. Und die eigene Wertschätzung steigert sich.

icon-close-small

IDEA: Wann und wie entwickelt sich unser Selbstwertgefühl?

Berger: Selbstwert entwickelt sich immer in Beziehungen, sowohl ein negativer als auch ein positiver Selbstwert. Wir bekommen von anderen Menschen von Anfang an ganz viele Botschaften, die uns das Gefühl geben, zum Beispiel hübsch zu sein, nett zu sein, dass wir etwas können.

Diese Botschaften sammeln sich über viele Jahre an und schlagen sich in einem bestimmten Selbstwertgefühl nieder. Wir verinnerlichen dabei nicht nur das Gesagte, sondern auch viel von dem, was in Mimik und Gestik ausgedrückt wurde, was sozusagen zwischen den Zeilen gesagt wurde.

„Der Selbstwert vor Gott sprengt unseren menschlichen Horizont.“

Manchmal kommen Menschen zu mir und sagen: Meine Eltern haben mich geschätzt, und die haben eigentlich nichts falsch gemacht. Trotzdem habe ich ein paar Ecken in meinem Selbstwertgefühl. Eltern können zwar gut informiert sein, wie Erziehung funktioniert.

Aber es gibt natürlich auch Stressreaktionen. Kinder können zum Beispiel im Gesicht ablesen, dass sie gerade nerven. Wenn das häufiger vorkommt, schlägt es sich im Selbstwertgefühl nieder: „Ich bin so kompliziert. Ich habe so viele Ansprüche.“

IDEA: Also spielen die Eltern die allererste und wichtigste Rolle bei der Ausbildung des Selbstwertgefühls.

Berger: Wenn jemand durch das Elternhaus gut aufgestellt ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er sich auch in anderen sozialen Feldern wie Schule, Arbeit, Freundschaften gut bewegen kann. Wenn man Schwachpunkte hat, können sich manche Sachen fortsetzen. Zum Beispiel lässt sich jemand schlecht behandeln, weil er immer brav und angepasst war und nicht gelernt hat, sich zu wehren.

Die Eltern sind für die Ausbildung des Selbstwertgefühls prägend. Symbolbild: pixabay.com

IDEA: Worauf sollten Eltern achten?

Berger: Das Erste muss ich wenigen Eltern sagen: Sie sollen ihre Kinder bedingungslos lieben, nicht vergleichen und das Schöne und Wertvolle an ihnen finden – und es ihnen vermitteln. Dabei wird oft gelobt. Aber beim Loben gibt es die Gefahr, dass man fremde Maßstäbe ansetzt und das Kind sich dann fragt, was passiert, wenn es diese Maßstäbe das nächste Mal nicht erfülle.

Besser ist es, etwas Subjektives zu sagen wie: Da werde ich richtig fröhlich, wenn ich auf das gucke, was du gerade gemalt hast. Der zweite Tipp: Eltern müssen sich bewusstmachen, dass auch sie Ecken haben, die das Selbstwertgefühl des eigenen Kindes belasten können. Das kann man gar nicht verhindern.

Aber man kann es entschärfen, indem man sich auch mal bei den Kindern entschuldigt, wenn beispielsweise zu viel Druck gemacht wurde. Und Kinder sollten ermutigt werden, sich zu beschweren, wenn sie sich nicht genug gewertschätzt fühlen. Dann können Eltern in der Sache klar bleiben, aber ihre Art und Weise vielleicht korrigieren.

icon-close-small

IDEA: In der Pubertät stellen sich dann trotzdem wieder ganz viele Jugendliche infrage. Wie sollten Eltern damit umgehen?

Berger: Eine Hilfe ist es, wenn Eltern mit ihren eigenen Schwächen offen umgehen. Sie können zeigen: Auch für uns als Erwachsene ist es immer wieder eine Herausforderung, sich wertvoll zu fühlen. Eltern können fröhlich vorleben, dass sie unvollkommen und trotzdem wertvoll sind.

IDEA: Das sollte Christen als von Gott geliebte Kinder doch leichtfallen. Hilft der Glaube dabei, einen positiven Selbstwert zu entwickeln?

Berger: Eigentlich braucht man ein gutes Selbstwertgefühl, um die biblische Botschaft zu verkraften. Denn die sagt: Gott hat dich unendlich wertvoll geschaffen, aber gleichzeitig bist du ohne ihn unfähig, das neue Leben zu leben, in das dich Gott ruft. Deshalb ist der Glaube vieler Christen auch von Schuldgefühlen und Gefühlen der Unzulänglichkeit begleitet.

Der Selbstwert vor Gott sprengt unseren menschlichen Horizont. Ich muss nicht für mich selbst genommen wertvoll sein, sondern werde in der Ergänzung und Liebe durch andere wertvoll. Das zu verstehen und einzuüben, braucht gute christliche Gemeinschaft.

Aber je mehr ich mir das erschlossen habe, desto freier werde ich von dem, was in der Gesellschaft den Selbstwert ausmacht: Erfolg, Attraktivität, Besitz, Status und andere Dinge, die in ein unheilvolles Vergleichen führen und nicht glücklich machen.

IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!

Jörg Berger (53) ist Psychotherapeut und Paartherapeut mit eigener Praxis in Heidelberg. Der evangelische Christ ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Berger ist Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschienen ist „Die Anti-Erschöpfungsstrategie“ (Herder). Foto: Privat

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

IDEA liefert Ihnen aktuelle Informationen und Meinungen aus der christlichen Welt. Mit einer Spende unterstützen Sie unsere Redakteure und unabhängigen Journalismus. Vielen Dank. 

Jetzt spenden.