- ANZEIGE -
E-Paper Abo Anmelden
Ressorts
icon-logo

Interview

Prof. Suzuki: Bachs Musik ist ein Gottesgeschenk

02.08.2023

Das Mosaikfenster zeigt Johann Sebastian Bach in der Leipziger Thomaskirche. Foto: pixabay.com
Das Mosaikfenster zeigt Johann Sebastian Bach in der Leipziger Thomaskirche. Foto: pixabay.com

Das Leipziger Bachfest gilt als größtes musikalisches Festival Deutschlands. Pfarrer Werner Neuer (Schallbach bei Lörrach) war für die Evangelische Nachrichtenagentur IDEA dabei und hat dort ein Gespräch mit dem japanischen Dirigenten und evangelischen Christen Prof. Masaaki Suzuki (Bach Collegium Japan) geführt.

IDEA: Herr Suzuki, am Abend des 18. Juni haben Sie zum ersten Mal in der Leipziger Thomaskirche mit Ihrem Bach Collegium Japan Bachs h-Moll-Messe aufgeführt, sein vielleicht gewaltigstes Werk. Die Zuhörer waren spürbar bewegt, die christliche Botschaft und diesen Höhepunkt europäischer Musik ausgerechnet von Künstlern aus dem fernen Japan zu hören, denn kaum ein Japaner ist Christ. Wie haben Sie das Konzert persönlich erlebt?

Suzuki: Es war wirklich eine wunderbare Erfahrung. Das gilt natürlich hauptsächlich für die Musiker aus Japan. Aber wir alle sind der Bachschen Musik inzwischen so nahe, obwohl die meisten von uns keine Christen sind. Aber wir können alle das Gefühl für die Bachsche Musik leicht miteinander teilen.

In Japan sind natürlich nur etwa ein Prozent der Bevölkerung Christen. Aber die christliche Kultur ist breit akzeptiert. Zum Beispiel feiert jeder Japaner das Weihnachtsfest. Obwohl in Japan buddhistische und schintoistische Einflüsse dominieren und keine christliche Kultur herrscht, wird die christliche Musik oft aufgeführt und von vielen Menschen akzeptiert und genossen. Deswegen habe ich inzwischen in meinem Leben aufgehört zu fragen, ob der Hörer überhaupt ein Christ ist oder nicht. Denn die Musik selber wirkt immer! Und man kann nie wirklich wissen, wie. Deswegen haben wir keine Verantwortlichkeit dafür. Wir müssen uns ganz auf die Musik konzentrieren und diese Musik so perfekt wie möglich darbieten. Das ist unsere Aufgabe. Denn eigentlich kann niemand wirklich einschätzen, wie sich die christliche Kultur in Japan auswirkt. Zum Beispiel haben wir in jedem Jahr in der Karwoche die Aufführung der Matthäus-Passion. Und immer sind etwa 2.000 Leute anwesend. Die christliche Kultur beeinflusst viel mehr Menschen als nur die Christen.

IDEA: Als Jugendlicher, der den Gottesdienst einer kleinen christlichen Gemeinde in Kobe mit dem Harmonium begleitete, kamen Sie mit Bachs h-Moll-Messe erstmals durch eine Schallplatte in Berührung – eingespielt von dem legendären Münchener Bach-Interpret Karl Richter. Diese Schallplatte haben Sie nach eigenen Aussagen etwa 1.000-mal gehört. Was hat Sie von Jugend an gerade an diesem Werk Bachs so beeindruckt, dass es bis heute eine ungebrochene Faszination auf Sie ausübt: Wie erklären Sie dies?

Suzuki: Das ist sehr schwierig zu erklären. Mein ältester Eindruck von der h-Moll-Messe war: Es ist ein so gigantisches Werk, dass es im Grunde nicht zu verstehen ist. Die Klänge sind so wunderbar und zugleich so kompliziert, dass ich hier eigentlich von dem Inhalt der Musik nichts direkt verstehen konnte. Aber damals habe ich Trompete gespielt in einer Brass-Band [Bläser-Band]. Und die Trompeten in der h-Moll-Messe sind immer so faszinierend. Deswegen habe ich mich eigentlich erst mal in dieses Werk verliebt.

IDEA: Der Trompeter auf der damaligen Schallplatte war der berühmte Adolf Scherbaum.

Suzuki: Genau. Ich muss Ihnen dazu eine ganz schöne Geschichte erzählen. Wir haben in Ansbach [wo regelmäßig eine Bachwoche stattfindet, d. Red.] die h-Moll-Messe aufgeführt und ich habe ein Zeitungsinterview gegeben. Nach dem Konzert kam eine Frau und sagte: „Ich bin die Frau von Adolf Scherbaum.“ Das ist wirklich erstaunlich und bewegend. Ich habe kurz mit seiner Frau gesprochen und das war eine große Freude.

Die h-Moll-Messe konnte ich anfangs nicht wirklich verstehen, aber danach kam allmählich das Verständnis für ihre sehr schönen musikalischen Linien, ihre Polyphonie (Vielstimmigkeit) und ihre so gute Harmoniestruktur und Phrasierung. Das ist sehr faszinierend.

IDEA: Man braucht ein Leben, um die h-Moll-Messe zu studieren.

Suzuki: Sicher. Und die h-Moll-Messe ist immer mein Lieblingsstück neben der Matthäuspassion gewesen.

IDEA: Allgemeiner gefragt: Wie kommt es dazu, dass Sie nun schon seit über 50 Jahren Ihr Können als Musiker dem Werk des Thomaskantors Bach widmen und in Ihrem nichtchristlichen Heimatland, aber auch in vielen anderen Ländern eine geradezu überwältigende Resonanz Ihrer Konzerte erfahren?

Suzuki: Ich denke, ich habe nie Bach als meinen Lieblingskomponisten ausgewählt, sondern ich war „ausgewählt“ – oder „bestimmt“ –, um Bachs Musik zu machen. Und wenn man einmal sich mit der Bachschen Musik beschäftigt, kann man leichter Mozart oder Beethoven oder andere spätere Komponisten verstehen. Und es gibt keine Komponisten danach, auf die Bach keinen Einfluss ausgeübt hat. Deswegen, als dann Bach im Zentrum meines Lebens wirksam war, wurde es wunderbar. Und deswegen: Was ich mache, ist eigentlich nur, dass ich die Bachsche Musik selber zur Wirkung bringe. Sie wirkt auch an anderen – ob in Japan oder in anderen Ländern. Es geht also darum, die Musik wirksam und wertvoll für alle Menschen zu machen. Es gibt in jedem Land immer irgendjemanden oder ein Publikum, das wirklich begeistert ist von dieser Musik. Das ist meine Überzeugung.

IDEA: Und das haben Sie ja auch international in vielen Jahren erfahren.

Suzuki: Genau. Deswegen versuchen wir ja heutzutage, mehr asiatische Länder wie Singapur, Taiwan oder China zu erreichen. Und ich habe noch keine Ahnung, wie viele Leute wirklich so von der Bachschen Musik begeistert sein werden. Aber ich denke, dass dies wie überall auch in Asien der Fall sein wird. Obwohl es sich natürlich um deutsche Musik und deutsche Kantatentexte handelt, die nicht so leicht zu verstehen sind, gibt diese Musik Bachs aufgrund ihrer harmonischen und sinfonischen Struktur Verständnis auch für die Texte.

Dass wir Verständnis für die Texte gewinnen, ist sehr wichtig. Deswegen studieren wir in Japan zum Beispiel die Texte ziemlich oft. Weil die Texte nicht auf Japanisch sind, muss man sich als Japaner immer bemühen, um sie zu verstehen. Das ist so wie in der Bibel: Niemand liest die Bibel in den Originalsprachen. Alle lesen sie in einer Übersetzung. Deswegen ist die Übersetzung ein sehr wichtiger Teil der musikalischen Interpretation. Daher glaube ich, dass weltweit die gleichen Dinge passieren wie in Japan.

IDEA: Sie haben vor Jahren in einem Interview bestätigt, dass Sie zunächst Bachs Instrumentalmusik (für Klavier, Orgel und Orchester) kennenlernten, bevor sie seine geistliche Musik (Kantaten, Motetten und Passionen) entdeckten und intensiv studierten. Es gibt Musikliebhaber, die sagen: „Ich liebe Bachs Musik, aber ich habe große Schwierigkeiten mit der christlichen Botschaft und dem alten Deutsch Luthers, die Bach in seiner geistlichen Musik erklingen lässt.“ Was raten Sie solchen Menschen?

Suzuki: Das ist natürlich sehr schwierig. Die Instrumentalmusik ist leichter zu verstehen. Deswegen begann man in der japanischen Geschichte, wo man in der Vergangenheit die europäische Musik, Bachs Musik akzeptierte, erst einmal mit Cembalo-Konzerten oder Klavierstücken usw. Und erst viel später kam die Matthäuspassion und vokale Musik.

Und in meiner persönlichen Geschichte passierte das auf diese Weise: Ich habe damals zunächst Trompete gespielt und dann ziemlich viele Kantaten-Schallplatten mit Trompete von Helmut Rilling und anderen ausgesucht. Aber erst viel später habe ich verstanden, dass die Trompete nicht nur ein Brass-Band-Instrument ist: Sie hat in Bachs Kantaten eine symbolische Bedeutung! Danach hatte ich mehr Interesse, die Texte zu verstehen. Auf diese Weise leitet uns die Bachsche Musik selber immer mehr zum Verständnis der Texte. Als ich noch Student war in Tokio, da hatten einige Studenten die verrückte Idee, nur Bachsche Kantaten anzuhören. Wir kamen jeden Freitag zusammen und dann hatten wir so viele Eindrücke über die Kantaten ausgetauscht, aber ohne irgendwas über den Inhalt der Kantatentexte zu wissen. Aber trotzdem sind die Bachschen Kantaten aufgrund ihrer reinen Musik so faszinierend. Und erst danach kamen wir eigentlich zum genaueren Verständnis der Texte. So ist der Inhalt also von der Musik her zu verstehen. Wenn man dann einmal in diese Welt der Kantaten hineinkommt, kann man ihr nicht mehr entkommen: Orgelmusik z.B. wirkt schon sehr kräftig, um uns in die richtige Richtung zu leiten. Sie ist von der Struktur und ihrem Klang her ähnlich wie Bachs vokale Werke.

IDEA: Sie würden also Menschen ermutigen, sich um das Verständnis der biblischen und kirchlichen Texte in Bachs Werk zu bemühen, auch wenn es schwerfällt?

Suzuki: Bachsche Musik ist eigentlich nicht nur zum Verständnis da, sondern man kann ihre schönen Melodien auf vielerlei Weise benutzen, um in die Bachsche Welt hineinzukommen.

IDEA: Die Musik soll nach der Auffassung von Bach nicht nur lehren (lat. docere), sondern auch Gefühle bewegen (lat. movere) und erfreuen (lat. delectare).

Suzuki: Deswegen ist niemand gezwungen, die Texte zu verstehen. Wenn einmal das Interesse für die Bachsche Musik geweckt ist, dann kommen die Inhalte der Texte und das Motiv, sie zu studieren, auf ganz natürliche Weise. Man braucht sich also nicht unbedingt zu bemühen, um die Texte zu verstehen.

IDEA: Man muss im Grunde nur begegnungsoffen sein. Was haben Sie in Japan bei den vielen nicht-christlichen Hörern für Erfahrungen mit den biblischen Texten gemacht? Anscheinend reagiert das Publikum eher mit Staunen und Respekt als mit Ablehnung. Können Sie dies bestätigen?

Suzuki: Ja. Soweit wir in unseren Aufführungen – im Konzertsaal oder in der Kirche – sehen, gibt es so viele Leute, die mit großem Respekt und Interesse zuhören. Das ist wirklich wunderbar. Und eigentlich kann ich nicht wirklich erklären, warum die Leute die Vokalmusik akzeptieren. Auch wenn sie keine Christen sind, sind sie nicht ablehnend. Ich meine: Sie haben eine ziemliche Sympathie für die Bibel, obwohl sie noch keine Christen sind.

IDEA: Sie sind reformierter Christ. Bachs h-Moll-Messe zeigt meiner Meinung nach, dass der Thomaskantor nicht eine konfessionelle Überzeugung weiterverbreiten wollte – zumal sein Landesherr August der Starke „katholisch“ war –, sondern die alle Konfessionen übergreifende biblisch-altkirchliche Sicht. Der verstorbene Papst Benedikt XVI. sah in Bach, wie er zum Leipziger Bachfest 2021 schrieb, vor allem einen Verkündiger Christi, dessen „Wohlgeruch“ (2. Korinther 2,14f.) durch die „Schönheit“ der Musik für „Christen wie Nichtchristen“ erklinge und weltweit eine erfreuliche Wirkung hervorrufe. Ist dieses weitherzige Verständnis von Bachs geistlicher Musik Ihrer Ansicht nach angemessen oder geht es zu weit?

Suzuki: Das ist wahr, dass ich zur reformierten Kirche in Japan gehöre. Und ich bin sehr glücklich, ein reformierter Christ zu sein. Die reformierte Lehre, dass Gott durch die „allgemeine Gnade“ an allen Menschen wirksam ist, ist eine Ermunterung, Bachs geistliche Musik überall aufzuführen und erklingen zu lassen – nicht nur in Kirchen, sondern auch in weltlichen Konzertsälen. Bachs Kantaten erinnern den Hörer jedenfalls an biblische Wahrheiten, weil ihre Musik die Beziehung von Bibeltexten und Musik erkennbar macht. Diese Beziehung ist in der Lage, in jede Situation eines Hörers hineinzuwirken unabhängig von seiner religiösen Überzeugung.

IDEA: Kann man also Papst Benedikt XVI. zustimmen, wenn er die über die christlichen Konfessionen hinausgehende universale Wirkung der Bachschen Musik betont?

Suzuki: Ja, das ist wunderbar.

IDEA: Als Theologe muss man meines Erachtens unterscheiden zwischen dem universalen kirchlichen Begriff „katholisch“ (allgemein) und dem konfessionell eingeschränkten Begriff „römisch-katholisch“. In diesem universalen, überkonfessionellen Sinn ist die h-Moll-Messe auf jeden Fall „katholisch“.

Suzuki: Das stimmt.

IDEA: Was bedeutet die Musik Johann Sebastian Bachs für Sie ganz persönlich?

Suzuki: Die Musik Bachs ist von Jugend an immer bei mir geblieben und ich habe nie selbst Bach ausgewählt. Ich lebe einfach mit dieser Musik und dies ist ein Gottesgeschenk. Bachs Musik ist für mich persönlich die wichtigste Musik. Obwohl ich nicht nur Bach, sondern auch andere Komponisten aufführe (Mozart, Beethoven etc.), komme ich jedes Mal nach der Aufführung anderer Komponisten zu Bach zurück und fühle mich zu Hause. Das ist ein wunderbares Gefühl. Ich bin ganz einfach glücklich mit Bach. Und ich erlebe dieses Gefühl als großes Gottesgeschenk.

IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!

Eine Einordnung zum Bachfest und zu Prof. Suzuki von Werner Neuer:

Im Juni 2023 fand in Leipzig wie jedes Jahr das Bachfest statt. Das Fest ist der Musik des christlichen Komponisten Johann Sebastian Bach (1685–1750) gewidmet, die in vielen Konzerten aufgeführt wird. Dieses Jahr kamen über 60.000 Teilnehmer aus fast 60 Ländern. Was häufig nicht gelingt, fand hier statt: Eine eindrucksvoll gelungene Symbiose von Evangelium und Kultur, von Kirche und klassischer Musik – und all dies auf höchstem Niveau. Eine weitere Besonderheit: Jeder Tag begann um 9.30 Uhr mit einem erstaunlich gut besuchten Morgen-Gottesdienst (Mette genannt), in dem von professionellen Chören eine Bach-Kantate und andere kirchenmusikalische Hymnen präsentiert wurden. Die zehn Tage des Festes waren vor allem erfüllt von Bachs Musik, dargeboten von berühmten Interpreten nationalen oder internationalen Rangs. Das Fest enthielt immer wieder manche geradezu ergreifende Momente – z. B. wenn sich in diesem Jahr weltberühmte Bachinterpreten öffentlich geradezu zeugnishaft mit bestimmten christlichen Kantaten als ihren persönlichen Lieblingskantaten identifizierten oder wenn das Eröffnungskonzert auf dem Leipziger Marktplatz mit Bachs bekanntem Choral „Jesus bleibet meine Freude“ (BWV 147) abgeschlossen wurde.

Zu den Besonderheiten gehörte in diesem Jahr, dass das Abschlusskonzert (wie immer Bachs h-Moll-Messe) in der Thomaskirche zum ersten Mal von dem namhaften japanischen Bach-Interpreten Masaaki Suzuki (69) aufgeführt wurde. Diese tief bewegende und zugleich begeisternde Darbietung war meines Erachtens der Höhepunkt des Bachfestes. Sie war zugleich das persönliche Bekenntnis und die Botschaft eines Mannes, der als Mitglied einer bewusst christlichen Familie schon als Jugendlicher in der japanischen Großstadt Kobe evangelische Gottesdienste mit dem Harmonium begleitete. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es ihm, alle geistlichen Werke Bachs mit einem japanischen Orchester und Chor mit historischen Instrumenten einzuspielen, was bisher nur wenigen Europäern gelungen ist. Der fließend deutsch sprechende Organist und Cembalist versteht sich als evangelischer Christ und hat in Asien, Europa und Amerika durch seine hochkarätigen Aufführungen viele Menschen trotz ihres buddhistischen, schintoistischen oder säkularen Hintergrunds zu einer Begegnung mit dem Evangelium geführt, über die man nur staunen und sich freuen kann.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

IDEA liefert Ihnen aktuelle Informationen und Meinungen aus der christlichen Welt. Mit einer Spende unterstützen Sie unsere Redakteure und unabhängigen Journalismus. Vielen Dank. 

Jetzt spenden.