Kolumne
Die Harmoniefalle
13.06.2023
Es ist nicht immer alles nur harmonisch!”, fuhr mich eine ältere Studentin während meines Unterrichts an. Sie trifft damit ins Schwarze. Es ist kein Zufall, dass diese Bemerkung gerade bei mir fiel, einem Dozenten, der eigentlich Pastor ist. In meiner Zeit in Freikirchen wurde ich unbewusst von der Überzeugung geprägt, dass offene Konflikte unchristlich seien. Ich entwickelte daraus einen Führungsstil, der auf Harmonie konzentriert war. Ich versuchte die höchsten Leadership-Werte zu leben, keine Menschen zu verletzen und trotzdem grosse Ziele zu erreichen. Je grösser meine Verantwortung wurde, desto weniger gelang es mir, allen Ansprüchen nachzukommen. Ich realisierte, dass hinter meinen Bestrebungen oft nur die Angst stand, nicht zu genügen. Ich erkannte, dass ich dem auf den Grund gehen und konfliktbereiter werden musste.
Seit einigen Jahren lerne ich, Spannungen nicht länger zu fürchten, sondern sie als wertvolle Chancen zur Entwicklung zu nutzen. Oft muss ich Entscheidungen treffen, bei denen ich weiss, dass sie richtig sind, sie fühlen sich aber komplett falsch an. Diese Schuldgefühle lassen mich manchmal stark an mir zweifeln, aber ich weiss, sie sind nicht wahr. Erstaunlicherweise entfalte ich aber auch Leadership-Stärken, welche sich bereits hinter meinen Harmoniebestrebungen aufgebaut haben. Das sind Rohdiamanten, welche nun durch Konfliktfähigkeit ihren richtigen Schliff erhalten. So ist es plötzlich viel einfacher, andere zu fördern, strategisch zu entscheiden und visionär zu kommunizieren, wenn es nicht das Wichtigste ist, keine Spannungen zu erzeugen.
Das anfangs erwähnte Feedback der Studentin war allerdings etwas ernüchternd. Sie hat mich aber dazu veranlasst, Bilanz zu ziehen: Meine Harmoniesucht drückt immer noch durch. Doch die erlernte Konfliktfähigkeit bringt so viel Freiheit und Selbstwirksamkeit, dass ich sie unbedingt weiter ausbauen will.
Joël Vögeli ist Pastor im ICF Twenties (junge Erwachsene) und leitet die Leadership Ausbildung im ICF Zürich. joel.voegeli@icf.ch, icf.ch/twenties
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