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Porträt

„Das Leben lässt sich nicht berechnen“

03.12.2020

Gabi Rechsteiner, Führhund Willow: „Was haben wir schon im Griff?“ Foto: Mirjam Fisch-Köhler
Gabi Rechsteiner, Führhund Willow: „Was haben wir schon im Griff?“ Foto: Mirjam Fisch-Köhler

Bäretswil (idea) - Gabi Rechsteiner wurde sehend geboren, doch sie leidet an einer degenerativen Augenerkrankung. Seit fünf Jahren gilt sie als blind. Seither ist sie mit Blindenstock und dem Labradorhund Willow unterwegs. Ihre Beeinträchtigung ist für alle sichtbar. Manchmal behandelt man sie deshalb privilegiert. Aber das mag sie nicht. Sie wolle auf Augenhöhe wahrgenommen werden, sagt sie. Ob sie will oder nicht - Gabi trägt dazu bei, dass ihr Umfeld zum Thema Behinderung sensibilisiert wird. Manchmal gibt sie gern Auskunft, manchmal ärgert es sie, dass wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass sie darüber sprechen möchte.20 bis 25 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben laut Statistik ein Handicap. Ursachen sind Krankheit, Unfall und Alter. "Die Kontrolle über das Leben ist eine Illusion - was haben wir schon im Griff? Das Leben lässt sich nicht berechnen", sagt die 35-Jährige. Menschen mit einer Behinderung wie Gabi Rechsteiner führen uns diese Tatsache vor Augen - aber nicht alle möchten daran erinnert werden.

Menschliche Vielfalt

Mit achtzehn wollte Gabi Autofahren lernen, doch der Arzt winkte ab. "Damals habe ich mit Gott gerungen", bekennt sie. Doch inzwischen ist es für sie fast normal, blind zu sein. Sie zieht einen Vergleich: "Ich denke ja auch nicht jeden Morgen darüber nach, dass ich eine Frau bin." Die verschiedenen Formen von Behinderung seien ein Zeichen für menschliche Vielfalt, sagt Gabi Rechsteiner. "Die Gesellschaft ist gefordert, sich dieser Vielfalt zu stellen." In ihrem Haus bewegt sie sich sicher und ohne Stock. Ausserhalb ist sie froh um Hilfestellungen wie Leitlinien am Boden oder Summer bei Lichtsignalen. "Es gibt noch viel Verbesserungspotenzial beim hindernisfreien Bauen", hält die Psychologin fest. Um dieses Anliegen einzubringen, gehörte sie zum Beispiel zum Beirat des Zürcher Theaterspektakels. Kunst soll für Menschen mit Behinderung möglichst selbständig zugänglich sein. "Auch in anderen Bereichen sind wir oft nicht auf dem Radar", weiss sie. Dabei erfordere es beispielsweise keine grossen Anpassungen, um Homepages für Sehbehinderte nutzbar zu machen. Doch werde kaum je daran gedacht.

"Ich bin so. Gott soll mich führen"

Seit Töchterchen Timea vor einem Jahr geboren wurde, teilen sich Gabi und ihr Mann Erwerbs- und Familienarbeit. Sie arbeitet 40 Prozent als Psychotherapeutin, er 60 Prozent als Buchhalter. Ihre Behinderung sei ein Teil ihrer Identität. "Ich bin so, also soll Gott mich durchs Leben führen", hält sie fest. Darauf vertraue sie.

"Wer entscheidet über den Wert des Lebens?"

Manchmal wird sie gefragt, ob ihre Tochter vom gleichen Gendefekt betroffen sei wie sie. Das ist sie nicht. Und ob man das einem Kind zumuten könne, wenn man davon wüsste. "Welches Leben ist lebenswert und wer entscheidet darüber?" fragt Gabi dann jeweils zurück. "Ich würde ja mich selbst ablehnen, wenn ich mein Dasein als Blinde als nicht lebenswert einstufen würde."Gabi Rechsteiner vergleicht das Leben eines Menschen - ganz unabhängig davon, ob er körperlich oder psychisch erkrankt ist - mit der Aufgabe eines Wirts: "Ich lasse jeden Gast eintreten, auch den stinkenden. Aber ich entscheide, zu wem ich mich hinsetze." Wer sich immer um die lautesten Gäste kümmere, der verbringe seine ganze Zeit dort und womöglich vertreibe er damit auch noch die anderen.
(Autorin: Mirjam Fisch-Köhler)

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