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Interview

Regierungsrat Neuhaus: "Ohne Kirche gäbs ein Vakuum"

19.10.2016

Regierungsrat Neuhaus: "Hinter das Vorgehen der Freidenker setze ich ein Fragezeichen." Foto: Andrea Vonlanthen
Regierungsrat Neuhaus: "Hinter das Vorgehen der Freidenker setze ich ein Fragezeichen." Foto: Andrea Vonlanthen

Bern (idea) - Im Jahr 2008 wurde Christoph Neuhaus (54) in den Berner Regierungsrat gewählt und ist seither Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektor. Bis Mitte Dezember befindet sich ein neues Berner Landeskirchengesetz in der Vernehmlassung. Damit soll die Autonomie der drei bernischen Landeskirchen gestärkt werden. Sie sollen künftig ihre Geistlichen selber anstellen können und entscheiden, wie die Pfarrstellen auf die Kirchgemeinden verteilt werden. Der Kanton unterstützt die Kirchen aber weiterhin im bisherigen Rahmen.Fragen wir mit Gretchen in Goethes Faust: Wie hält es der Berner Kirchendirektor mit der Religion?Ich bin der einzige Kirchendirektor zwischen Gibraltar und Wladiwostok, habe also eine spezielle Funktion. Ich konnte diese Direktion ja nicht selber wählen, doch ich bin für diese Aufgabe sehr dankbar. Vor der Matur überlegte ich mir, Theologie zu studieren. Ich habe darauf verzichtet, weil ich mich als etwas zu weltlich und vor allem zu politisch betrachtete. Doch die Religion und das Christentum gehören zu meinem Leben. Ich bin bewusst Angehöriger der reformierten Landeskirche.Was bedeutet Ihnen der Kirchenbesuch?Das sind für mich rare Momente der Ruhe und der Besinnung, auch der Rückbesinnung. Hier schöpfe ich Kraft für meinen Alltag. Ich erlebe Gottesdienste als schöne Feiern. Es gibt auch Momente, in denen ich mich getragen fühle von der kirchlichen Gemeinschaft.Sie sind Kantonalberner Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektor. Was fasziniert Sie gerade an der Kirchendirektion?Meine Direktion lehrt mich ein wenig Demut. Wir Politiker denken ja immer wieder in Legislaturen. Die Kirche lebt in ganz andern Zeiträumen. Sie ist nicht nur verhaftet im Tagesgeschäft, in dem man als Politiker den aktuellen Schlagzeilen "nachsecklet". Die Kirche ist eine andere, wohltuende Welt. Sie wirkt in einem grossen Ganzen, zu dem wir Sorge tragen müssen. Das wird mir als Kirchendirektor immer wieder bewusst.Soeben haben Sie ein neues kantonales Kirchengesetz in die Vernehmlassung geschickt. Sie wollen damit "das Verhältnis von Kirche und Staat weiterentwickeln und einen Reformprozess anstossen". Wohin soll dieser Reformprozess führen?Wir müssen im Kanton Bern leider Gottes moderner werden. Wir haben keine saubere Trennung zwischen Kirche und Staat. Das neue Landeskirchengesetz, das ein Gesetz von 1945 ablösen soll, will den Kirchen mehr Autonomie verschaffen. Sie sollen selber die Verantwortung übernehmen für ihre Pfarrer und Priester. Die Berner Landeskirchen haben momentan noch etwa 430 Stellen und etwa 670 Anstellungen. Der Pfarrer hat eigentlich vier Chefs: den Herrgott, die Kirchgemeinde, die ihn auswählt, die Landeskirche, die ihm den theologischen Auftrag gibt, und personalrechtlich den Kanton. Da gibt es einige Schnittstellen. Darum soll das Verhältnis entflechtet werden. Doch der Kanton will sich nicht distanzieren von den Landeskirchen. Ich bin nicht bereit, mit einer jahrhundertealten Tradition telquel zu brechen.Den Berner Kirchen geht es unter dem Schirm des Staates gar nicht so schlecht. Was bringt ihnen die stärkere Autonomie?Mehr Selbstverantwortung. Die Kirche soll selber zu ihren Mitarbeitenden schauen. Was wir ihnen mitgeben, ist das Geld für die Löhne. Wir "schüfelen" die Landeskirchen nicht einfach im Sinne einer Sparübung ab. Im Mai 1804 wurde ein Vertrag geschlossen, in dem festgehalten wurde, dass der Staat die Löhne der Pfarrer bezahlt. 1815 haben wir auch die römisch-katholische Kirche anerkannt. Um 1874 kamen die Christkatholiken dazu. Wir übergeben den Kirchen weiterhin das Geld für die Löhne, doch die Kirchgemeinden haben dann für die konkrete Aufteilung zu sorgen. Sie müssen künftig nicht immer anklopfen beim Staat.Finanziell ändert sich also nichts für die Kirchen?Der Rahmen bleibt bis 2026 unverändert. Diese Sicherheit haben die Kirchen. Das ist wichtig für sie.Lohnt sich der grosse Aufwand für diese Gesetzesrevision, wenn sich - salopp gesagt - doch niemand mehr für die Kirche interessiert?Dieser Aufwand muss nun einfach sein. Auch die bernische Kirche ist heute eine Alterskirche. Ältere Leute sehen die sinnstiftende Wirkung der Kirche noch mehr. Viele Leute sind auch "Allradchristen" mit vier Rädern geworden: Taufe, Firmung oder Konfirmation, Heirat und Beerdigung. Im vorletzten Jahrhundert war es noch so, dass man im Kanton Bern gezwungen war, pro Haushalt mindestens jemanden in die Kirche zu schicken. Entsprechend hat man heute das Gefühl, die Kirchen seien leer. Berstend voll sind die Kirchen ja dort, wo es den Leuten wahnsinnig schlecht geht. Dort kommen die Leute wieder zum Glauben. In diesem Sinn müssen wir fast dankbar sein, dass die Kirchen leer sind ...... und daran wird ein neues Gesetz wohl nichts ändern.Ja, uns geht es trotz allem Jammern doch vergleichsweise gut. Aber wir haben dann die Religionsneutralität, die einem modernen Staat vorgeschrieben ist, erfüllt. Und wir stehen gleichzeitig weiterhin zu unseren Landeskirchen. Mit einer eigenen Studie haben nun die Berner Freidenker eine Kirchendebatte angeheizt. Sie sagen, die Leistungen der Kirchen würden weit weniger genutzt als man glaube. Täuschen sich die Freidenker?Hinter das Vorgehen der Atheisten setze ich ein grosses Fragezeichen. Bei den Freidenkern handelt es sich in Bern um ein paar Dutzend Leute. Mich ärgert es, wenn eine solch kleine Splittergruppe eine solch grosse Aufmerksamkeit bekommt. Man kann ja auch dankbar sein, wenn gewisse soziale Angebote der Kirchen nicht so stark beansprucht werden müssen. Doch es gibt einfach Leute, die mehr Vertrauen haben zu einem Pfarrer als zu einem Sozialarbeiter oder einer Ärztin. Die Kirche hat für viele Menschen mit Problemen eine wichtige Funktion. Mit einer eigenen Studie haben wir festgestellt, dass die gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Kirche im Kanton Bern 133 Millionen Franken ausmachen. Der Kanton bezahlt den Kirchen die Hälfte. Wir müssen der Kirche dankbar sein für das, was sie macht. Dazu kommt einfach, dass das Christentum unser Fundament ist.Warum wäre die Welt ohne Religion und ohne Kirche nicht besser?Für Freidenker wären alle Probleme gelöst, wenn es keine Kirchen gäbe ... Eine Illusion! Eine Welt ohne Kirchen wäre eine ärmere Welt. Im Kanton Bern leistet die Kirche den letzten grossen Service public flächendeckend. Es entstünde ein Vakuum, das bald mit staatlichen Leistungen und staatlichen Löhnen gefüllt werden müsste.Offenbar geniessen die Kirchen in der Gesellschaft noch immer einen grossen Rückhalt. Ihre Erklärung dafür?Das Christentum gehört quasi zu unserer DNA. Es ist das Grundwasser unserer Gesellschaft. Die Kirche hat viel mit unserer Tradition zu tun. Man ist froh, dass es eine Kirche gibt. Aber man ist in einem gewissen Sinn auch froh, wenn man sie nicht braucht. Wir haben vor zwei Jahren in der Kirche unsern Sohn getauft. Das war eine Superstimmung. Ich möchte die Kirche wirklich nicht missen.Könnte die Gleichstellung der vergleichsweise erfolgreichen Freikirchen in absehbarer Zeit ein Thema werden?Das ist nicht auszuschliessen. Es gibt Bestrebungen in dieser Richtung. Doch unsere Mittel sind einfach beschränkt. Ich stelle aber fest, dass die Freikirchen sehr viel Gutes leisten für unsere Gesellschaft. In Belp, wo ich wohne, gibt es zehn Freikirchen. Im Gemeinderat gehören vier von sieben Mitgliedern einer Freikirche an. Vor diesem Hintergrund liegt mir daran, dass die Landeskirchen und die Freikirchen positiv zusammenarbeiten und sich nicht bekämpfen.Ein Kirchendirektor hat ja zwei Chefs: das Volk als Souverän und Gott. Wie nehmen Sie Ihren göttlichen Auftraggeber wahr?Wir arbeiten als Politiker in Legislaturen und spekulieren auf eine Wiederwahl. Der Blick auf Gott hilft mir, längerfristig zu denken. Er hilft mir, manchmal auch etwas zu sagen, das weniger angenehm ist. Und der Herrgott hilft mir auch, im politischen Alltag möglichst anständig und ehrlich zu bleiben. Ich spüre, dass mich der Herrgott jeden Tag zum Arbeitsplatz und dann auch wieder nach Hause begleitet.Interview: Andrea VonlanthenDiese ist eine gekürzte Fassung. Das ausführliche Interview mit Christoph Neuhaus finden Sie im Wochenmagazin ideaSpektrum Nr. 42-2016.

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