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Woran krankt der „evangelikale Patient“?

15.05.2023

Prof. Volker Gäckle (links) und Dekan Michael Diener haben sich bei einem digitalen Streitgespräch über den Zustand des „evangelikalen Patienten“ geäußert. Fotos: Privat; Evangelischer Gnadauer Gemeinschaftsverband
Prof. Volker Gäckle (links) und Dekan Michael Diener haben sich bei einem digitalen Streitgespräch über den Zustand des „evangelikalen Patienten“ geäußert. Fotos: Privat; Evangelischer Gnadauer Gemeinschaftsverband

Holzgerlingen (IDEA) – Über den Zustand des „evangelikalen Patienten“ haben zwei Theologen bei einem digitalen Streitgespräch der wissenschaftlichen Zeitschrift „Theologische Beiträge“ (Holzgerlingen bei Stuttgart) diskutiert. Sie wird vom Pfarrerinnen- und Pfarrergebetsbund (PGB) herausgegeben.

Rund 170 Teilnehmer folgten den Ausführungen des Rektors der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL), Prof. Volker Gäckle (Calw), und des ehemaligen Vorsitzenden der Evangelischen Allianz in Deutschland und Ex-Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Dekan Michael Diener (Germersheim/Pfalz).

Diener – er ist Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – drückte seine Besorgnis darüber aus, dass die evangelikale Bewegung momentan als wenig attraktiv und einladend wahrgenommen werde. Das habe mit verschiedenen Entwicklungen zu tun. Diener nannte als Beispiele die Haltung vieler ihrer Vertreter in sexualethischen Fragen und die Unterstützung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump durch die weißen Evangelikalen.

Er kritisierte in diesem Zusammenhang, dass Gäckle diese Entwicklung mit der Politisierung landeskirchlicher Predigten in Deutschland verglichen hatte. Hier sehe er einen großen qualitativen Unterschied, weil sich viele Menschen fragten, wie „Christenmenschen einer solchen Leitfigur“ wie Trump folgen könnten.

Diener: Evangelikale haben Homosexuellen Leid angetan

Diener äußerte sich auch zum Umgang mit praktizierter Homosexualität. Er habe in dieser Hinsicht selbst einen „Lernweg“ durchlaufen. Dabei sei er zu dem Schluss gekommen, dass der Apostel Paulus im Römerbrief keine Homosexualität zweier gleichberechtigter Erwachsener meine, wie man sie heute verstehe.

Nach seiner Einschätzung würden die Evangelikalen auch in dieser Frage am Ende „der öffentlichen Entwicklung“ folgen – ähnlich wie sie das zuvor etwa hinsichtlich der Ordination von Frauen überwiegend getan hätten. Zugleich gelte es, selbstkritisch zu sein: „Wir haben homosexuellen Menschen in der evangelikalen Bewegung unendlich viel Leid angetan.“

Unterschiedliche Positionen aushalten

Er habe in seinen zwölf Jahren als Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes viel Gutes im Umgang mit den Vertretern des Pietismus erlebt. Ihm sei jedoch auch immer wieder ein gewisser „Hang zum Urteilen“ über den Glauben anderer Menschen begegnet. Nachdem er seine Haltung zu praktizierter Homosexualität geändert habe, sei ihm von manchen Pietisten sein Christsein abgesprochen worden.

Evangelikale, die in dieser Frage andere Meinungen mit Verleugnung des Wortes Gottes und mit Ungehorsam gleichsetzten, würden in der Gesellschaft, aber auch in der Gesamtheit der Christenheit nicht auf Zuspruch stoßen, sondern „schön unter sich bleiben“. Er empfehle der evangelikalen Bewegung deshalb, in dieser Frage unterschiedliche Positionen auszuhalten.

Gäckle: Moralvorstellungen nicht an der säkularen Gesellschaft ausrichten

Gäckle betonte dagegen, dass es nicht darum gehen könne, von „einer säkularen und postchristlichen Gesellschaft“ als hübsche Braut wahrgenommen zu werden. Diener wünsche sich offensichtlich, dass die evangelikale Bewegung zu einem seriösen und geachteten Akteur „in der deutschen Meinungslandschaft“ werden solle.

Seine Schriftauslegung und seine Moralvorstellungen werde er – Gäckle – jedoch erst dann ändern, „wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass sie im Licht der Heiligen Schrift nachjustiert werden müssten“, aber nicht, um einer säkularen Gesellschaft zu gefallen. Denn für ihn sei die Bibel Gottes Wort, das Achtung und Gehorsam verdiene.

Aus seiner Sicht würde es den Evangelikalen zudem auch keine „günstigere Außenwahrnehmung“ bringen, wenn sie sich der Gesellschaft anpassen würden. „Die EKD versucht seit Jahrzehnten, ihr Image entlang des gesellschaftlichen und politischen Mainstreams auszurichten und ist dadurch faktisch nicht attraktiver geworden.“

Außerdem beharrte der Theologieprofessor darauf, dass es sehr wohl Parallelen zwischen der Politisierung der EKD und der der weißen Evangelikalen in den USA gebe – nur unter umgekehrten politischen Vorzeichen. Politisierte Predigten, die nichts mit dem Evangelium zu tun haben, seien nicht zielführend und wirkten in beiden Fällen „polarisierend und nicht einend“.

Das Thema Homosexualität wird von außen an Evangelikale herangetragen

Gäckle beklagte, dass die evangelikale Bewegung bereits seit vielen Jahren immer wieder mit dem Thema praktizierte Homosexualität konfrontiert werde. „Das hat uns verfolgt.“ Man habe die Evangelikalen mit dieser Frage „medial bombardiert“ und versucht, sie auf dieses Thema zu reduzieren. „Wir konnten machen, was wir wollten; wir sind dieses Thema nicht losgeworden.“

Durch die ständige Nachfrage nach diesem Thema habe es sich zu einem Spaltkeil in der evangelikalen Bewegung entwickelt. Er selbst hätte es darum bevorzugt, nicht ständig öffentlich darüber zu reden. Wenn er aber darauf angesprochen werde, könne er seine Überzeugungen auch nicht verleugnen. Die einschlägigen biblischen Aussagen in diesem Zusammenhang bezögen sich nicht auf eine gleichgeschlechtliche Neigung oder Orientierung. Dafür interessierten sich diese Texte nicht. Sie lehnten aber den gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr als solchen ab – unabhängig von den damit verbundenen Gefühlen oder Kontexten.

Gäckle stimmte Diener zwar zu, dass auch Christen gleichgeschlechtlich empfindende Menschen in der Vergangenheit „auf rücksichtslose Art und Weise“ behandelt hätten. Er wies jedoch darauf hin, dass es in 2.000 Jahren Kirchengeschichte immer auch einen sehr „liebevollen, verantwortungsvollen, seelsorgerlichen, nachgehenden“ Umgang der Christen mit diesen Menschen gegeben habe.

Es ist noch nicht klar, wer sich am Ende durchsetzen wird

Nach seiner Einschätzung schrumpft die evangelikale Bewegung im Gegensatz zu den beiden Volkskirchen momentan nicht. Die Zahl der Menschen, die sich zu theologisch konservativen Gemeinden hielten, sei vielmehr weitgehend stabil. Er sei zudem skeptisch, ob Diener mit seiner Einschätzung richtig liegen werde, dass sich dessen Position am Ende auch unter den Evangelikalen durchsetzen werde.

Gäckle wies in diesem Zusammenhang auf die Theologie Rudolf Bultmanns (1884–1976) hin, der die „Entmythologisierung“ der Bibel propagiert habe. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts habe in der wissenschaftlichen Theologie weitgehend Konsens in dieser Frage geherrscht. Inzwischen würden Bultmanns Thesen jedoch auch in den großen Kirchen nicht mehr uneingeschränkt geteilt und vielfach auch kritisch gesehen. Hier habe die evangelikale Bewegung letzten Endes recht behalten.

Der 1913 gegründete Pfarrerinnen- und Pfarrergebetsbund fühlt sich dem Erbe des Pietismus verpflichtet. Als Gesamtvertrauensmann (Leiter) amtiert der württembergische Pfarrer Johannes Reinmüller (Ingelfingen bei Heilbronn).

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