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Glaube

Wird ein Text lebendig, verändert sich alles

24.10.2021

Einen biblischen Text laut vorlesen und nachher darüber diskutieren. Damit hat Christine Wassmer bereits als Gymnasiallehrerin gute Erfahrungen gemacht. Fotos: zvg
Einen biblischen Text laut vorlesen und nachher darüber diskutieren. Damit hat Christine Wassmer bereits als Gymnasiallehrerin gute Erfahrungen gemacht. Fotos: zvg

(IDEA) - Christine Wassmer ist Gymnasiallehrerin mit 20 Jahren Berufserfahrung und internationale Gastdozentin für Englische Literatur. Als sie 2017 an einer Schule in Navrongo (im Norden Ghanas) eine Lehrerfortbildung leitete, stellte sie fest, dass die Mehrheit der ghanaischen Schüler kaum lesen kann. Die Sprachsituation in Ghana ist komplex. Das westafrikanische Land mit gut 30 Millionen Einwohnern kennt über 80 Muttersprachen, und die Kinder lernen die Amtssprache Englisch erst in der Schule. Das führt zu grossen Schwierigkeiten beim Lesen.

Hinzu kommt, dass die äusseren Umstände das Lernen zusätzlich erschweren. Die Klassen sind mit 45 bis 90 Schülern in einem Zimmer überfüllt. Die Zimmer haben keine Fenster, es ist laut und heiss. Die meisten Schüler können sich keine Schulbücher leisten. Die Didaktik ist veraltet und ideenlos. Dies alles führt bei den Kindern zu grossen Schwierigkeiten mit dem Lesen. Nach der Schule bleibt den Jugendlichen eine Berufsausbildung verwehrt. Falls sie trotz mangelhafter Schulbildung eine Arbeit finden, liegt ihr Einkommen meist unter der Armutsgrenze. S0 fasst Christine Wassmer die schulische Situation zusammen, die sie in Ghana vorfand.

Schon am Gymnasium

Bereits als Gymnasiallehrerin für Maturanden hatte sie Erfahrungen gesammelt mit lautem Lesen von Texten und einem multimedialen, kreativen Umgang mit Literatur. Die Bibel ist für Christine Wassmer ein besonders inspirierender Text. Jahrelang stellte sie die Bibelbücher für die englische Matura-Abschlussprüfung zur Auswahl, aber lange Zeit hatte kein Maturand Interesse daran.

„Doch plötzlich wählten eine Schülerin und ein Schüler je ein Evangelium als Matura-Text. Ich habe sie ermutigt, das ganze Bibelbuch als Vorbereitung laut zu lesen“, erzählt Christine Wassmer. Das Ergebnis: Eine Schülerin wandte sich – allein durch das Lesen des Evangeliums – Christus zu und bekannte dies bei der Maturaprüfung gegenüber der Expertin.

Später hat Christine Wassmer das Johannesevangelium mit einer ganzen Klasse im Literaturunterricht zuerst laut gelesen, anschliessend analysiert und kreativ verarbeitet. „Die Literaturdiskussionen mit den Schülern über den biblischen Text waren äusserst lebendig, interessant und gingen in die Tiefe“, erinnert sie sich. Sie erlebte, wovon sie schon lange überzeugt war: dass das laute, zusammenhängende Lesen von Texten – und gerade von biblischen Texten – erstaunliche Wirkungen in vielen Dimensionen hat.

Das Projekt „The Book in School“

Mit diesem Wissen startete Christine Wassmer Ende 2018 an mehreren Schulen in Ghana ein Pilotprojekt. Im Sprachunterricht wurde mit klassischen Bibeltexten gearbeitet, die jeweils zehn Minuten lang laut gelesen wurden. Anschliessend wurde über den Text gesprochen. Warum die Bibel? Wassmer: „Die biblische Sprache ist reichhaltig und eine Grundlage der Weltliteratur. Allein Shakespeares Werke weisen über 1500 Bibelreferenzen auf!“ Zudem würden der Tiefgang und die Zeitlosigkeit des Textes den Schülern einen breiten Kontext erschliessen, um ethische und gesellschaftliche Fragen zu diskutieren.

Im „The Book“ genannten Projekt wird jeweils ein ganzes Buch der Bibel gelesen. Die Resultate an den 24 teilnehmenden Schulen im vergangenen Jahr waren derart gut, dass die staatliche Erziehungsdirektion in Accra sich nun für eine Zusammenarbeit interessiert. Denn Lehrer berichten von einer signifikanten Verbesserung der Lesefähigkeit von bis zu 90 Prozent bereits innerhalb von zwei Monaten.

Aber noch mehr: „Zudem stellen sie eine Förderung aller anderen akademischen und sozialen Kompetenzen fest: allgemeine Sprachfähigkeit, Literaturanalyse, Kreativität, selbständiges und vernetztes Denken, Verbesserung der Teambildung und Kommunikation in der Schule“, fasst Christine Wassmer die Ergebnisse zusammen. Das Lesen
wird ergänzt mit spannendem, interdisziplinären Unterricht. Mit Verbindungen zum eigenen Lebenskontext – und über diesen hinaus – lernen Schülerinnen und Schüler sich selber besser kennen.

„Bibellesen ist ein Schöpfungsakt“

Welches Geheimnis liegt den positiven Veränderungen zugrunde? Sie seien physiologisch und psychologisch begründet, erklärt Christine Wassmer. Und weiter: „Man muss 100 Muskeln koordinieren, bis die Stimme funktioniert. Das bedeutet, dass der Körper stark aktiviert wird – auch das Hirn wird aktiviert.“ Noam Chomsky, einer der bekanntesten Linguisten der Gegenwart, hält fest: „Wir haben so etwas wie eine interne Grammatik, man korrigiert sich selbst. Laut lesen verändert immer, egal welcher Text es ist.“

Für Pädagogin Wassmer kommt beim Bibeltext eine besondere Wirkung dazu. Als Menschen in der Schweiz mit dem Projekt in Berührung kamen, fingen sie selbst an, die Bibel laut zu lesen. Dabei stellten sie fest, dass sie eine tiefe Freude spürten und an innerer Stärke gewannen. Ängste und Schwermut traten in den Hintergrund. Für Christine Wassmer ist das laute Lesen der Bibel ein „Schöpfungsakt“: „Das Verb ‚meditieren‘ im Psalmtext ‚Wohl dem, der über deinem Wort Tag und Nacht meditiert‘ bedeutet eigentlich murmeln, laut sprechen – orthodoxe Juden setzen ja bekanntlich den ganzen Körper ein, wenn sie den Text rezitieren.“

Die Webseite des Vereins „The Book in School“ zeigt, wie die laut gelesenen Evangelien nicht zuletzt die künstlerischen Fähigkeiten von Kindern freisetzen. Das Projekt ist mit einem textbezogenen Kunstprojekt und einem Schulwettbewerb verbunden. 2019/2020 nahmen bereits 6000 Schülerinnen und Schüler zwischen 9 und 15 Jahren sowie 140 Lehrkräfte in Basisschulen in vier Regionen (Accra, Kumasi, Upper East, Eastern Region) erfolgreich an „The Book in School“ teil. Mittlerweile ist das Projekt als Lehrerfortbildung in Ghana anerkannt. Im laufenden Schuljahr bekamen bereits 8000 Kinder und 200 Lehrkräfte die Möglichkeit, am Projekt teilzunehmen.

„Die Stimmung in der ganzen Schule verändert“

Ein Lehrer berichtet: „‚The Book in School‘ hat mir als Lehrperson sehr geholfen. Ich habe neue Unterrichtsmethoden gelernt und habe mir neue Fähigkeiten angeeignet: Literaturanalyse, Teamarbeit, laut lesen, Text visualisieren, mit Farbe arbeiten.“ Am erfreulichsten sind die Auswirkungen auf seine Schüler. Der Lehrer beschreibt: „Die Lesefähigkeit meiner Schüler hat sich sehr verbessert; durch den kreativen Ansatz können sie die Texte jetzt viel besser verstehen und es macht ihnen mehr Spass. Das Projekt hilft, die Talente von Kindern zu entdecken, und damit haben alle das Gefühl, sie gehören dazu und können zum Unterricht beitragen.“ Und noch etwas: Die moralische Orientierung, welche ihnen der biblische Text gibt, habe die Stimmung in der Klasse und in der ganzen Schule verändert: „Jetzt wollen sie einander vergeben. Es ist mehr Friede und Freude da.“ 
(Autor: Reinhold Scharnowski, Livenet)
thebookinschool.com

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