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Glaube

Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

01.12.2020

Der Autor, Markus Till (Weil im Schönbuch), ist promovierter Biologe. Auf seinem Blog „Aufatmen in Gottes Gegenwart“ (blog.aigg.de) nimmt er zu theologischen Themen Stellung. Foto: idea/ Wolfgang Köbke
Der Autor, Markus Till (Weil im Schönbuch), ist promovierter Biologe. Auf seinem Blog „Aufatmen in Gottes Gegenwart“ (blog.aigg.de) nimmt er zu theologischen Themen Stellung. Foto: idea/ Wolfgang Köbke

 

Auch im frommen Lager sind die Zeiten vorbei, in denen Christen ganz selbstverständlich gemeinsame Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens geben konnten. Der Konsens über gemeinsame Glaubenswahrheiten scheint zu schwinden. Wie man angesichts der wachsenden Differenzen trotzdem verbunden bleiben kann, überlegt Markus Till.

Es begeistert mich, wenn Christen aus verschiedenen Kirchen, Generationen und Prägungen zusammenkommen, um gemeinsam Jesus zu feiern und ihren Glauben zu bezeugen. Jesus selbst hat intensiv für Einheit gebetet. Und er hat dabei deutlich gemacht: Die Glaubwürdigkeit unseres Christuszeugnisses hängt auch von unserer Einheit ab (Johannes 17,23). In den letzten 20 Jahren habe ich mich darüber gefreut, dass frühere Spaltpilze wie z. B. die Frage nach den „Charismen“ oder der richtigen Taufpraxis an Bedeutung verloren haben. Zuletzt musste ich aber feststellen: Neben den Spaltpilzen ist leider auch der verbindende Konsens dahingeschmolzen.Wer sich mit theologischen Formaten wie „Worthaus“ und ihrem wachsenden Einfluss befasst, muss nüchtern feststellen: Auch im evangelikalen Umfeld sind die Zeiten vorbei, in denen Christen ganz selbstverständlich gemeinsame Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens geben konnten. Kein Wunder, dass christliche Leiter immer öfter die Frage stellen: Wie können wir beieinanderbleiben? Wie kann angesichts der wachsenden Differenzen heute noch Einheit gelingen?

Wo ist der Konsens?

Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Strategien für den Umgang mit einem verloren gegangenen Konsens: Man kann entweder versuchen, ihn wiederherzustellen und um den Konsens zu ringen. Oder man kann den verlorenen Konsens bewusst loslassen und stattdessen zu Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Standpunkten aufrufen. Je nachdem, welche Strategie man für richtig hält, wird man ganz unterschiedliche Menschen als Brückenbauer empfinden.Anhänger der Konsensstrategie sehen Brückenbauer dort am Werk, wo um die Gültigkeit gemeinsamer Glaubenswahrheiten gerungen wird. Anhänger der Toleranzstrategie werden hingegen gerade dieses Festhalten an gemeinsamen Glaubenswahrheiten als einheitsgefährdend ansehen und stattdessen solche Menschen als Brückenbauer empfinden, die die Verbindlichkeit von Glaubenswahrheiten infrage stellen und damit Raum für sich widersprechende Positionen schaffen. Meine Beobachtung ist: Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansätzen wird zunehmend scharf geschossen, auch mitten im evangelikalen Umfeld.Umso mehr müssen wir uns die Frage stellen: Welche Sichtweise stimmt? Brauchen wir mehr Konsens? Oder mehr Toleranz? Und was verbindet uns noch, wenn wir keine gemeinsamen theologischen Positionen mehr form

Die Mitte ist Jesus Christus

Anhänger der Toleranzstrategie antworten auf diese Frage oft in etwa wie folgt: Die verbindendende Mitte des Christentums ist keine Lehre, sondern die Person Jesus Christus. Seine grenzenlose Liebe und Annahme hilft uns, Enge und Rechthaberei zu überwinden, uns einander in aller Unterschiedlichkeit anzunehmen, uns gegenseitig unseren Glauben zu glauben und Raum zu geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Ich halte diese Sichtweise im Prinzip für absolut richtig. Jesus selbst, die Wahrheit in Person, ist das Haupt der Gemeinde, das die Glieder miteinander verbindet (Epheser 4,15–16). Echte Einheit lebt immer von der gemeinsam gelebten Christusbeziehung und von der erlebten Liebe, Gnade und Vergebung, die uns auch gnädig und barmherzig füreinander machen kann. Ein theologischer Buchstabenkonsens wird die verbindende Kraft einer gelebten Christusbeziehung niemals ersetzen können. Zudem bin ich der Meinung: Natürlich brauchen wir in Randfragen Weite für respektvolle, unverkrampfte Debatten. Christen werden niemals in allen Fragen einer Meinung sein. Für Einheit in Vielfalt dürfen und müssen wir deshalb unterschiedliche Positionen aushalten lernen. Und meine Erfahrung ist: Wo die Liebe zu Jesus im Mittelpunkt steht, da gelingt das in aller Regel auch. Trotzdem müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die immer öfter und lauter formulierten Forderungen nach mehr Weite und Toleranz nicht geholfen haben. Im Gegenteil: Der Riss, der oft mitten durch die evangelikal geprägten Werke und Gemeinschaften geht, scheint stetig tiefer zu werden. W

Eine Illusion

Zum einen stelle ich fest: Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Gerade die letzten Wochen haben wieder gezeigt: Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen bei anderen Fragen hoch: Wie stehst du zu Trump? Wie stehst du zum Klimawandel? Wie stehst du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue moralistische Trennmauern aufgerichtet. Wo es keine theologischen Häresien mehr gibt, da treten ethische und politische Häresien an ihre Stelle. Und da zeigt sich: Auch „liberale“ Positionen können äußerst intolerant, aggressiv und herablassend gegenüber anderen Standpunkten auftreten und s

Die Bibel ist der Maßstab

Das zweite, noch größere Problem ist aus meiner Sicht: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ subjektiv vollkommen unterschiedlich gefüllt werden kann. Denn die Fragen stellen sich ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der unsere verbindende Mitte sein soll? Was hat er gelehrt? Was hat er für uns getan? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wie können wir mit ihm in Verbindung treten? Unsere einzige Informationsquelle zu solchen Fragen ist die Bibel. Wenn die Bibel aber kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird alles subjektiv. Dann ist es letztlich unmöglich, auf solche Fragen gemeinsame Antworten finden zu können. Ohne gemeinsame Antworten auf diese innersten Kernfragen des Glaubens haben wir als Kirche Jesu aber auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann gibt es letztlich nichts mehr, was wir trotz aller Unterschiedlichkeit ganz selbstverständlich gemeinsam feiern und bezeugen können. Dann fällt die Kirche Jesu auseinander – wenn nicht im Streit um theologische Fragen, dann doch in einem schleichenden Prozess der inner

Bekenntnisse sind ein Schatz

Deshalb bin ich überzeugt, dass Einheit in Vielfalt nur gelingen kann, wenn zur gelebten Christusmitte auch gemeinsam geteilte Glaubensüberzeugungen hinzukommen. Ganz offenkundig haben das auch die frühen Christen gespürt. Sie haben extrem viel Energie investiert, um auf Basis der biblischen Schriften gemeinsame Bekenntnisse zu formulieren. Das nicäno-konstantinopolitanische Bekenntnis gilt größtenteils bis heute in den protestantischen, in der katholischen, in der anglikanischen und sogar in den orthodoxen Kirchen als Glaubensgrundlage. Und ich frage mich: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn ausgerechnet wir Christen im Westen es heute nicht mehr für wichtig halten, ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist und ob er von einer Jungfrau geboren wurde oder nicht? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt ein gewaltiger Schatz, wenn alle Christen wenigstens diese wenigen Sätze ganz selbstverständlich gemeinsam glauben und bez

Die missionarische Dynamik fehlt

In meiner evangelischen Kirche fällt mir das besonders auf: Wo alles gleich gültig ist, da wird schnell auch alles gleichgültig. Da gibt es bald nichts mehr, wofür man sich gemeinsam engagieren und Opfer bringen möchte. Da verlieren wir die gemeinsame Leidenschaft, die gemeinsame Botschaft und damit auch die missionarische Dynamik. Kaum jemand weiß das so gut wie Ulrich Parzany. Evangelisationen wie proChrist leben davon, dass unterschiedlichste christliche Gruppen ihre Differenzen zurückstellen und sich gemeinsam engagieren für dieses eine Evangelium. Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet ein Vollblut­evangelist, der schon so viele verschiedene Christen zusammengeführt hat, sich heute so intensiv dafür einsetzt, dass wir unsere zentralen Bekenntnisse und Glaubensüberzeugungen bewahren. Ein Evangelist bemerkt nun einmal zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft e

Grenzzieher werden ausgegrenzt

Auch den Schreibern des Neuen Testaments war es wichtig, den Menschen nicht nur das Evangelium vor Augen zu malen, sondern es auch deutlich gegen falsche Lehren abzugrenzen. Heute fällt mir jedoch auf: Wer als „Grenzzieher“ auftritt, weil er den Konsens in den Kernfragen des Glaubens bewahren möchte, wird eher gemieden und ausgegrenzt. Statt sachlicher Debatte steht schnell der Vorwurf der „Rechthaberei“ oder die Unterstellung von „Angst“ oder gar „Denkfeindlichkeit“ im Raum. Man weist auf (ohne Zweifel vorkommende) fragwürdige und lieblose Äußerungen hin. Aber man redet kaum über berechtigte Impulse, die von solchen

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