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Gesellschaft

Der Transfer des Glaubens gelingt nicht

15.01.2022

Mit jeder Generation wird weniger gebetet. Foto: Pixabay
Mit jeder Generation wird weniger gebetet. Foto: Pixabay

(IDEA) - Auf der Basis von 30'000 befragten Personen untersuchten die Religionssoziologen Jörg Stolz und Jeremy Senn von der Universität Lausanne die religiöse Praxis und die Glaubensüberzeugungen in der Schweiz. Das Ergebnis zeigt die Entwicklung von 1930 bis 2020. Stolz und Senn stellen fest, dass es nicht die Erwachsenen sind, die den Glauben verlieren. Die Gesellschaft wird deshalb säkularer, weil ältere, religiöse Generationen durch neue, weniger religiöse Generationen ersetzt werden.

„Kohorten-Säkularisierung“

Der wöchentliche Kirchenbesuch sinkt seit Anfang 1980 kontinuierlich. Jede Generation geht weniger häufig zur Kirche als die vorherige. Die Soziologen sprechen von „Kohorten-Säkularisierung“. Die heutigen älteren Generationen sind in einer religiöseren Zeit aufgewachsen und haben ihre relativ hohe Religiosität über die Jahre erhalten. Spätere Generationen sind in weniger religiösen Gesellschaften aufgewachsen und haben ihrerseits die in der Jugend erworbene tiefere Religiosität einigermassen konstant mitgetragen. Stolz und Senn kommentieren: „Säkularisierung erfolgt somit aufgrund von Kohortenersetzung“ (NZZ, 30.12.21). Trotz dieses Haupttrends gilt es zu differenzieren. Die Säkularisierung ist nicht vollumfänglich auf Kohortenersetzung zurückzuführen. Leichte Religiositätsrückgänge zeigen sich auch während des Erwachsenenalters, vor allem in Bezug auf die Konfessionszugehörigkeit, mit anderen Worten, bei den Austritten aus der Kirche.

Stufenweise Säkularisierung

Die Annahme, dass viele Schweizerinnen und Schweizer die Kirchen verlassen, den Glauben aber behalten, wurde nicht bestätigt. Stolz und Senn fanden keine Hinweise darauf, dass es viele Personen sind, die lediglich aus der Kirche austreten, dem Glauben an Gott aber treu bleiben. Die Säkularisierung verläuft in Stufen. Zuerst sinkt der Kirchenbesuch, dann sinken die Antworten zum Glauben und zuletzt sinkt die Konfessionszugehörigkeit. Die Autoren der Studie haben eine Vermutung: „Es scheint, als gäben die Menschen zeitintensive Verhaltensweisen schneller auf.“

Es wird immer weniger gebetet

Der Besuch des Gottesdienstes ist ein Merkmal der Glaubenspraxis. Ein zweites solches Merkmal ist das Gebet. Bis in die 1990er-Jahre behaupteten Soziologen, die Gebetspraxis entziehe sich der Säkularisierung; sie bleibe konstant. Stolz und Senn sagen, aus heutiger Sicht sei diese Einschätzung falsch. Die Veränderung in der Häufigkeit des Betens gleiche dem Kirchenbesuch frappant. Beim Durchschnitt aller Befragten sinkt die Bethäufigkeit fast linear: von 43 Prozent, die täglich beten im Jahr 1988, zu 14 Prozent im Jahre 2018. Dieser Rückgang beim Beten ist grösstenteils zurückzuführen auf die Ablösung einer Generation bzw. Kohorte zur nächsten. Mit anderen Worten: Jede neue Kohorte betet etwas weniger häufig als die vorherige. Dasselbe Bild zeigt sich bei den Glaubensfragen rund um Gott, Himmel, Hölle und Wunder.

Die Schweiz ist kein Sonderfall

Wer nun meint, mit dem Weglegen christlicher Überzeugen würden sich viele Menschen esoterischen Weltbildern zuwenden, irrt. Die These einer spirituellen Revolution erhärtet sich nicht. Es gibt keine Zunahme im Bereich nichtchristlicher Spiritualität, welche die Verluste des christlichen Glaubens aufwiegen würde. Die Schweiz ist im Bereich der Säkularisierung kein Sonderfall. Die Säkularisierung in Europa erfolgt zu einem grossen Teil bei der Ersetzung von Kohorten. Der Treiber dieses Prozesses ist der mangelnde Transfer des Glaubens an die nächste Generation. Über alles betrachtet – Ausnahmen bestätigen die Regel – gelingt es den Eltern nicht in genügendem Mass, ihren Kindern den Glauben vorzuleben und zu vermitteln. Der Pegel des Glaubens sinkt mit jeder Generation ein bisschen mehr. 
(Autor: Rolf Höneisen)

Stolz, Jörg & Senn, Jeremy (2021). Generationen abnehmenden Glaubens: Religion und Säkularisierung  in der Schweiz
1930–2020. Social Change in Switzerland, N°27;
socialchange-switzerland.ch

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