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Gesellschaft

Die Pandemie macht Arme ärmer

26.02.2021

An der Hohlstrasse in Zürich: Anstehen für Lebensmittel. Foto: zvg
An der Hohlstrasse in Zürich: Anstehen für Lebensmittel. Foto: zvg

(IDEA) - Gegen Ende des Monats klafft ein Loch im Portemonnaie. Im Küchenregal liegen kaum noch Vorräte. Der dringend notwendige Zahnarztbesuch muss hinausgeschoben werden. Nahezu jede sechste Person in der Schweiz ist von Armut betroffen. Das Bundesamt für Statistik spricht in seiner neuesten Erhebung von 8,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. 15,7 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind von Armut bedroht. 155 000 Personen (4,2 %) sind sogenannte Working Poor, also Menschen, die trotz Erwerbsarbeit arm sind, sie leben unterhalb der Armutsgrenze (siehe Kasten). Die Rechnung für Familien und Einelternhaushalte ist einfach: Je mehr Kinder, desto grösser die Gefahr zu verarmen.

Hilfe für kinderreiche Familien

Genau darum gründete Käthi Kaufmann-Eggler 1997 zusammen mit anderen Eltern von drei und mehr Kindern die IG Familie 3plus, einen Arbeitszweig des Vereins Jugend und Familie. Als Präsidentin dieser Interessengemeinschaft kennt sie die Herausforderungen von kinderreichen Familien: „Wenn das Familienbudget schon im normalen Alltag knapp – manchmal sehr knapp – ist, dann verträgt es keine weiteren Erschütterungen.“ Aber genau das passiert in diesen Tagen. Corona verursacht finanzielle Engpässe, unter anderem durch Kurzarbeit oder wenn Mütter ihren ohnehin schlecht bezahlten Mini-Job verlieren. Und als wäre die Belastung nicht schon gross genug, kommt eine unvorhergesehene Autoreparatur hinzu oder der Teenager macht einen Wachstumsschub und braucht dringend ein Paar Winterschuhe. Käthi Kaufmann-Eggler: „Es gibt nötige Anschaffungen und unvorhersehbare Kosten, die das Fass zum Überlaufen bringen.“ Die IG Familie 3plus hilft schnell und unbürokratisch, zum Beispiel mit Einkaufsgutscheinen von Grossverteilern. Sie betreibt aber auch ein Kleiderlager. Familien in Not können ihre Kleiderwünsche im Detail auflisten. Mit einer Beteiligung von 10 Franken erhalten sie umgehend ein Paket mit dem Gewünschten. Im Angebot sind aber auch „gute Feen“, erfahrene (Gross-)Mütter, die Familien ihre Zeit zur Verfügung stellen und Eltern, die am Limit sind, entlasten. In Kooperation mit christlichen Hotels ermöglicht die IG Familie 3plus regelmässig kostengünstige, dem Budget der Familien angepasste Ferien. „Und“, gesteht Käthi Kaufmann-Eggler mit einem Schmunzeln, „manchmal leisten wir auch Erziehungsarbeit bei den Eltern.“ Es muss nicht alles neu sein, ein Secondhand-Bett erfüllt den Zweck genauso. Dieses Bewusstsein versucht sie, den Hilfesuchenden zu vermitteln. Für die Präsidentin von IG Familie 3plus ist klar: „Corona hat die Situation von Alleinerziehenden und Familien mit mehr als zwei Kindern deutlich verschärft.“ Die täglichen Anfragen haben sich verdreifacht.  

Stadt-Land-Gefälle

Scheinbar trifft die Krise die Bevölkerung in ländlichen Gebieten weniger. Silke Steiger, Diakonische Mitarbeiterin der reformierten Kirchen Unteres Neckertal und Oberer Necker, betreut zusammen mit Freiwilligen eine Lebensmittelabgabe. Das Projekt in Brunnadern, das seit 2009 besteht, trägt den Namen „Mäntigsmarkt“. Die Bezüger stammen aus einem weiten Umkreis, gut die Hälfte haben einen Migrationshintergrund. Frau Steiger beobachtet zwar kaum einen Zuwachs an Bezügern, aber die Frequenz steigt: „Wer bisher alle drei Wochen zu uns kam, kommt plötzlich 14-täglich.“ Die Begegnungen haben sich durch das nötige Schutzkonzept reduziert, Gespräche finden nur noch zwischen Tür und Angel statt, bedauert sie. Auch in Furna in der Region Prättigau/Davos scheint Corona die Bevölkerung kaum finanziell zu drangsalieren. Die Gemeindepräsidentin des „Landwirtschaftsdorfs“ mit 220 Einwohnern, Cornelia Roffler (51), sagt, dass zwar manche Landwirtschaftsbetriebe aufgrund der schlechten Preise zum Beispiel beim Kalbfleischverkauf grosse finanzielle Einbussen hinnehmen müssten. Aber: „Mehr Sozialfälle gibt es deswegen bei uns nicht. Bevor jemand in einer so kleinen und überschaubaren Gemeinde auf die Sozialhilfe zukommt, werden andere Kanäle gesucht. Erspartes wird aufgebraucht, auf Ferien verzichtet“, sagt Cornelia Roffler.

Das Nachbeben kommt noch

Jürg Gilgen arbeitet seit knapp zehn Jahren bei der Fachstelle Schuldensanierung (FSS) in Lyss. Im Gespräch mit IDEA bestätigte er den rauen Wind, der Menschen mit knappen finanziellen Mitteln momentan um die Ohren weht. Bei ihm sind es eher die bisherigen Klienten, die mit zusätzlichen Sorgen belastet werden. Sie haben sich bereits vor der Pandemie verschuldet: „Wer sich schon in guten Zeiten mit seinen Fixkosten ans Limit begibt und zum Beispiel Leasingverträge, Kleinkredite etc. abschliesst, der kommt definitiv mit 80 Prozent seines Lohnes nicht mehr über die Runden.“ Gilgen verzeichnete bisher keinen Anstieg von Hilfesuchenden, aber er vermutet, dass sich die Corona-Krise verzögert in der Fachstelle bemerkbar macht. Anders bei Markus Hofmann von Food-Care in Gossau SG. Er sammelt seit 2006 Lebensmittel, die sonst vernichtet würden. Schon gegen Ende des Jahres 2019 begann sich in der Ostschweiz die Lage zuzuspitzen. „Mit dem Lockdown explodierte der Bedarf“, sagt Hofmann. Food-Care sammelte vorher im Schnitt 20 Tonnen Lebensmittel pro Woche, jetzt sind es zwischen 25 und 30 Tonnen. Ein Teil der Lebensmittel stammt aus der Produktion, die für Gastrobetriebe vorgesehen war. Hofmann weiss von 60 bis 100 Tonnen Tiefkühlprodukten, die demnächst weggeworfen oder bestenfalls an Bedürftige verteilt werden. Food-Care belieferte früher vor allem Institutionen in der Ostschweiz, die Krise zeigte aber, dass der Bedarf in der Stadt Zürich immens ist. Regelmässig stehen samstags zwischen 700 und 1000 Menschen an der Hohlstrasse 420 in Zürich für Lebensmittel Schlange. Rund 9 Tonnen Lebensmittel tragen die Wartenden in der langen Schlange jeden Samstag mit nach Hause. Markus Hofmann hat zwar Zugang zu genügend Lebensmitteln, aber die Entwicklung generiert bei der Organisation Food-Care steigende Kosten, unter anderem für Treibstoff. Zudem sind weitere Fahrzeuge und Kühlanhänger erforderlich, um den Auftrag auch in Zukunft erfüllen zu können. Markus Hofmann ist überzeugt: „Es geht erst richtig los!“ So wie Gilgen rechnet auch er damit, dass die Folgen von Corona wie ein Nachbeben erst mit Verzögerung spürbar werden – vielleicht auch in ländlichen Gebieten. Die Spitze der Not scheint noch nicht erreicht. 
(Autorin: Helena Gysin)

Wann ist man arm?

Das Haushaltbudget wird in der Sozialhilfe auf Basis der SKOS-Richtlinien (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) für eine Person sowie für Eltern mit zwei Kindern folgendermassen berechnet:
•    Einpersonen-Haushalt: Grundbedarf für den Lebensunterhalt: 986 Franken plus effektiver Mietzins und Krankenkassenprämie
•    Eltern mit 2 Kindern: Grundbedarf für den Lebensunterhalt: 2110 Franken plus effektiver Mietzins und Krankenkassenprämie
budgetberatung.ch

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