- ANZEIGE -
E-Paper Abo Anmelden
Ressorts
icon-logo

Frei-/Kirchen

Vortasten auf dem Weg von Gnade und Wahrheit

29.11.2016

Referent Hoffmann, Moderator Schneeberger: Wie hält man die Balance? Foto: idea/Rolf Höneisen
Referent Hoffmann, Moderator Schneeberger: Wie hält man die Balance? Foto: idea/Rolf Höneisen

Aarau (idea/rh) - Das BAG hat 30 000 Schweizern unter die Bettdecke geguckt. Es fand heraus, dass eine erwachsene Frau in ihrem bisherigen Leben im Durchschnitt mit sechs Personen Geschlechtsverkehr hatte, ein Mann mit sieben. Jeder Fünfte hatte schon mit mehr als 20 Menschen sexuell verkehrt. Und: 13 Prozent geniessen Sex mit einer Person. Mitten in einer Gesellschaft, die sich mehrheitlich nicht mehr an einen übergeordneten Werterahmen hält, leben sie in alternativen Beziehungen. Zu ihnen zählen Christen, welche die Ehe als Gottes Idee hochhalten und die Familie als Raum für Kinder schützen. Lange sind die gesellschaftlichen Verwerfungen an ihnen vorbeigegangen. Spät, aber wuchtig, ist die Diskussion auch bei ihnen angekommen und sie müssen sich neu orientieren.

Viele Fragen, wenig Orientierung

In den Kreisen bekennender Christen, insbesondere den Freikirchen, ist es dringlich, in Sachen Sex sprachfähig zu werden. Wie redet man über Sex? Welches sind gesunde Leitplanken? Was sagt die Theologie? Wie geht man seelsorgerlich mit homosexuell fühlenden Menschen um? Was ist mit Pornografie? Ist Sex vor der Ehe ein gutes Übungsfeld für die spätere Ehe? Das ist nur eine Auswahl der im Raum stehenden Fragen. Am 22. November trafen sich in Aarau rund 400 Pastoren und Seelsorgerinnen und Seelsorger. Eingeladen hatte der Verband der Freikirchen VFG, dem 16 freikirchliche Bewegungen angehören. Tagungstitel war „Sexualität im Wandel“. Obwohl das Thema Sexualität allgegenwärtig sei, herrsche viel Orientierungslosigkeit, stellte Markus Hoffmann im Eingangsreferat fest. Auch innerhalb der christlichen Gemeinden finde ein Wandel statt. Im Zentrum des Fragens stehe heute die Freiheit. Hoffmann meinte, Christen hätten in der Vergangenheit zu wenig in Wissen investiert. Dabei sei Sexualität komplex und Kinder und Jugendliche brauchten „gewaltige Unterstützung“.

Konservativer und barmherziger

Markus Hoffmann leitet die Beratungsstelle Wüstenstrom in Tamm DE. Er berät Menschen mit Problemen in ihrer sexuellen Identität. Dazu publiziert und doziert er über Sexualpädagogik. Bis heute wird er von bestimmten Kreisen mit Schlagwörtern wie „Umpoler, Freibeter, Schwulenheiler“ diskreditiert. Das geht zurück auf eine Zeit, in der er – einst selbst homosexuell empfindend – begonnen hat, veränderungswillige gleichgeschlechtlich veranlagte Personen zu beraten. In den vergangenen 30 Jahren ist das Wissen um Sexualität und Identität enorm gewachsen. Als einer der wenigen christlich motivierten Berater hat sich Markus Hoffmann in diese Forschungen eingearbeitet. Seine seelsorgerliche Praxis habe sich im Laufe der Jahre verändert, sagt der Sexualpädagoge. Sein ethisches Bewusstsein sei im Kontext des Glaubens konservativer geworden. Gleichzeitig sei er mit den Menschen barmherziger unterwegs.

Die Grenzen der Wissenschaft Die Sozialwissenschaften sagen, der Mensch sei sexuell variabel, ein frei beschreibbares Wesen, befreit zu einer vielfältigen Sexualität. Er lerne Sex im Kontext der Kultur. Der Sexualität wird eine Energie beigemessen, die den Menschen emanzipiert und befähigt, seine individuelle, polymorph-perverse Sexualität zu entwickeln. Markus Hoffmann zeigte auf, dass es in der aktuellen Sexualpädagogik keine Wahrheit über Sex gibt, sondern lediglich eine gesellschaftskritische emanzipatorische Pädagogik. Biologie und Psychologie werden zurückgedrängt. Aus diesem Grund gibt es auch kaum Therapie-Modelle. Hoffmann verwies auf ein Paradox: Einerseits soll auf dem Weg zur sexuellen Vielfalt die Heterosexualität überwunden werden und andererseits wird die homosexuelle Identität als essenziell bewertet, als Schicksal, das man leben muss.

Identität und Sexualität

„Wir wissen nicht, wie Gene und Sexualität zusammenhängen“, so Hofmann. Gesichert sei hingegen, dass über 50 Prozent der Männer sowohl auf hetero- wie homosexuelle Anregungen reagierten. 9,4 Prozent der Männer und 19,5 Prozent der Frauen haben homoerotische Empfindungen. Als homosexuell definieren sich 1,3 Prozent der Männer und 0,6 Prozent der Frauen. 2,8 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen sind bisexuell. Das zeigt, wie variabel Sexualität ist. Das Wissen über Sex entwickelt sich innerhalb einer Kultur. Der Mensch setzt um, was er gelernt hat. Kinder brauchen Beziehung zu den Eltern. Wärme, Nähe, Berührung. Markus Hoffmann: „Erlebe ich eine Balance in Beziehungen, dann kann ich Geschlechtsmotive in mir anders integrieren.“ Die Herausbildung der sexuellen Identität ist ein komplexer Prozess. Sie ist mehr als ein hirnorganisches, genetisches, hormonelles Zusammenspiel. Aber auch nicht bloss das Resultat aus der Lebensgeschichte, sondern multifaktoriell und hoch subjektiv in die Persönlichkeit integriert. Nichts da mit Schwarz oder Weiss.

Sexualität braucht Entscheidung

Hoffmann betonte, es gebe keine Sexualität ohne ethische Entscheidung. Gelingende Sexualität erfordere psychische Kompetenz, eine moralische Haltung, Bindungsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit, insbesondere auch die Fähigkeit, sich in die Situation des Partners zu versetzen. Christliche Gemeinden seien Orte, um das Wissen über gelingende Sexualität zu vermitteln: wie man mit Frustration umgeht, Gefühle ausdrückt, sich auf eine Beziehung einlässt ohne Angst vor Vereinnahmung. Auf diese Informationen hätten gerade gleichgeschlechtlich ausgerichtete Menschen ein Recht. Und solche gebe es in christlichen Gemeinden mehr, als dies den meisten bewusst sei.

Abschieben auf Gott

In Bezug auf Homosexualität herrschen zwei Denkrichtungen vor: Die eine besagt, das Ausleben von Homosexualität ist theologisch legitimiert. Die andere fordert die Unterwerfung des Betroffenen unter das Gebot Gottes, ohne dass sie das innere sexuelle Sehnen durchdrungen hat. Beide Ansätze helfen einem Menschen, der zu einer Lebensentscheidung kommen muss, kaum weiter. Hoffmann: „In der Tendenz schieben beide Ansätze die Verantwortung für homosexuelles Fühlen Gott zu: Einmal, indem man behauptet, Gott habe sich dies als Schöpfungsvariante ausgedacht; zum anderen durch die Haltung, dass Gott, der homosexuelle Handlungen nicht will, diese Gefühle vom Menschen wegzunehmen habe.“ Liebe und Wahrheit suchen einen dritten Weg.

Auf den Weg gemacht

Neben Hoffmanns Grundlagenreferaten bot der VFG-Weiterbildungstag einen Input der Sexualberater Christa und Wilf Gasser an, sechs Workshops sowie Überlegungen zu einer angemessenen Gemeindeordnung. Ein Workshop reflektierte den Entwurf eines Thesenpapiers „Zum Umgang mit Homosexualität in evangelischen Freikirchen“, das nun weiterentwickelt wird. Zudem wurde ein Predigtpreis für die beste Predigt zum Thema Sexualität ausgerufen. Nein, ein Bibelseminar war dieser Tag nicht. Wer es gerne schwarz oder weiss hat, wurde ernüchtert. Dennoch warfen die Informationen Licht auf ein Thema, wo den Freikirchlern alles Böse unterstellt wird. In Aarau haben sie sich auf den Weg gemacht, um an Wissen und Weisheit zu wachsen. Es braucht Training, um Gnade und Wahrheit in Einklang zu bringen.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

IDEA liefert Ihnen aktuelle Informationen und Meinungen aus der christlichen Welt. Mit einer Spende unterstützen Sie unsere Redakteure und unabhängigen Journalismus. Vielen Dank. 

Jetzt spenden.